Ein radikaler Plan für das Dach der Welt
1953 benötigten Tenzing Norgay und Edmund Hillary über zwei Monate, um den Gipfel des Mount Everest zu erreichen. Sie passten sich über Wochen an die extreme Höhe an, indem sie langsam auf- und abstiegen. Dabei errichteten sie Lager, verlegten Leitern und fixierten Seile – sie belagerten den Berg systematisch.
Heute profitieren Bergsteiger von fixierten Routen, perfekter Logistik und der Hilfe von Sherpas. Trotz moderner Technik brauchen die meisten Besteigungen noch immer fast zwei Monate. Wetterbedingungen, körperliche Verfassung und Staus auf der Route beeinflussen die Dauer. Der Weg zum Basislager dauert meist eine Woche, dann verbringen viele bis zu 40 Tage mit der Akklimatisierung und dem eigentlichen Aufstieg. Einige Anbieter werben mittlerweile mit Schnellprogrammen, die in nur zwei Wochen zum Gipfel führen sollen.
Kommerzielle Offensive mit Xenongas: Schneller Gipfelsturm für 150.000 Euro
In dieser Saison will der österreichische Bergführer Lukas Furtenbach die Besteigungsdauer massiv verkürzen. Sein neues Konzept: Von London aus sollen Teilnehmer in nur sieben Tagen den Everest-Gipfel erreichen. Der Ablauf umfasst einen Flug nach Kathmandu, eine Helikopterreise zum Basislager und dann den sofortigen Aufstieg – ohne klassische Akklimatisierung. Kostenpunkt: rund 150.000 Euro pro Person.
Die Kletterszene reagierte erstaunt. Furtenbach setzt auf eine ungewöhnliche Methode – das Einatmen von Xenon-Gas. Dieses Edelgas, bekannt aus der Anästhesie, soll die Bildung des Proteins Erythropoetin (EPO) fördern. EPO steigert die Produktion roter Blutkörperchen und damit den Sauerstofftransport im Körper. Normalerweise wird dieser Effekt durch längere Aufenthalte in großer Höhe ausgelöst – also durch klassische Akklimatisierung.
Furtenbach behauptet, Xenon könne diesen Prozess beschleunigen. Er testete die Methode selbst bei Expeditionen und berichtet von Erfolgen. Doch wissenschaftliche Belege dafür fehlen bisher. Eine aktuelle Übersichtsstudie fand keine eindeutigen Hinweise auf eine Wirkung von Xenon auf den EPO-Haushalt beim Menschen.
Fachleute warnen vor Risiken und zweifeln am Nutzen
Andrew Peacock, Spezialist für Höhenmedizin an der Universität Glasgow, bleibt skeptisch. Eine gesteigerte EPO-Produktion führe nicht automatisch zur schnellen Bildung roter Blutkörperchen. Furtenbach hält dagegen: Weniger Zeit am Berg bedeute weniger Risiko durch Wetterumschwünge, Lawinen oder Erkrankungen.
Er ist bekannt für seine extrem verkürzten „Flash“-Expeditionen, bei denen sich Kunden zuhause vorbereiten. Für 2025 plant er, vier britische Kunden mit Xenon zum Gipfel zu führen. Viele in der Szene reagieren mit Kritik. Die medizinische Kommission der internationalen Klettervereinigung (UIAA) warnte vor fehlenden Studien zur Sicherheit und Wirkung von Xenon in der Höhe. Frühere Berichte betonen zudem das Risiko von Blutgerinnseln, wenn EPO künstlich erhöht wird.
Einige weisen auch darauf hin, dass EPO-steigernde Substanzen im Profisport verboten sind. „Warum sollten wir in der Bergsteigerszene Substanzen nutzen, die im Sport verboten sind?“, fragt der amerikanische Alpinist Adrian Ballinger. Sein Unternehmen brachte 2019 Roxanne Vogel in nur 14 Tagen zum Gipfel – mit Hilfe von Höhenkammern zur Vorbereitung.
Da es im kommerziellen Höhenbergsteigen keine Anti-Doping-Regeln gibt, interessieren sich viele Kunden mehr für Sicherheit als für Stilfragen. Manche Experten hoffen sogar, dass Xenon in Zukunft Sherpas helfen könnte. „Wenn das wirklich funktioniert, könnte es deren Arbeit sicherer machen“, sagt Dawa Steven Sherpa von Asia Trekking.
Körperliche Grenzen und Anpassung an extreme Höhen
In großen Höhen sinkt der Luftdruck, wodurch weniger Sauerstoff aufgenommen wird. Am Basislager in 5.500 Metern Höhe steht nur noch halb so viel Sauerstoff zur Verfügung wie auf Meereshöhe. Auf dem Gipfel in 8.850 Metern reduziert sich die Menge auf ein Drittel. Wetterverhältnisse können den Luftdruck zusätzlich senken – laut einer Studie sogar um den Effekt von weiteren 700 Höhenmetern.
Wissenschaftler stellten bei Everest-Besteigungen die niedrigsten je gemessenen Sauerstoffsättigungen im Blut gesunder Menschen fest. Eine plötzliche Exposition kann zu schwerer Hypoxie führen – einem Zustand, der sonst nur bei schwer kranken Patienten vorkommt. Schon ab 4.500 Metern leidet die geistige Leistungsfähigkeit.
Martin Burtscher von der Universität Innsbruck erklärt, wie der Körper sich anpasst: verstärkte Atmung, erhöhter Puls, veränderte Nierenfunktion – alles dient der besseren Sauerstoffversorgung. Die Erythropoese, also die Bildung roter Blutkörperchen unter Einfluss von EPO, spielt eine Schlüsselrolle. Nach Wochen der Akklimatisierung steigt die Blutmenge und damit die Sauerstoffkapazität.
Versagt diese Anpassung, drohen Höhenlungenödeme oder Hirnödeme. Dabei dringt Flüssigkeit in das Gewebe der Lunge oder des Gehirns – mit potenziell tödlichen Folgen, warnt Andrew Peacock.
Daher nutzen fast alle Höhenbergsteiger zusätzlichen Sauerstoff aus Flaschen. Auch Hillary und Norgay griffen 1953 darauf zurück. Von 7.269 bekannten Everest-Besteigungen erfolgten nur 230 ohne Zusatzsauerstoff. Dennoch betrachten manche diese Hilfe als „dopingähnlich“. Der Piolet d’Or, der wichtigste Preis im Bergsport, ehrt meist Besteigungen ohne Hilfsmittel.
Substanzen, Pillen und chemische Unterstützung am Limit
Seit Jahrzehnten greifen Bergsteiger zu chemischen Hilfen. 1953 erklomm Hermann Buhl den Nanga Parbat als einziger Mensch im Alleingang ohne Sauerstoff. Er überlebte eine Nacht auf 7.900 Metern – unterstützt von Pervitin, einem Methamphetamin, das deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg verwendeten.
Auch heute kursieren Gerüchte über Amphetamin-Nutzung in großen Höhen. Eine Studie von 1993 wies bei 7,1 % der Teilnehmer Spuren dieser Substanz nach. Verschreibungspflichtige Medikamente sind noch verbreiteter. Acetazolamid (Diamox) beschleunigt die Höhenanpassung. Dexamethason rettet Leben bei Hirnödemen, ist aber nicht risikolos. Sildenafil (Viagra) sollte Lungenödemen vorbeugen – blieb aber wirkungslos.
Zwei Bergsteiger testeten kürzlich ein Medikament gegen Blutarmut am Vulkan Chimborazo. Doch der Everest bleibt gefährlich. Extreme Kälte, Organschäden, Dehydration und der sogenannte „Todeszone“ über 8.000 Metern setzen dem Körper selbst mit Medikamenten zu. Kürzere Aufenthalte gelten daher als lebensrettend.
Xenon: Vom Operationssaal zum höchsten Berg der Welt
Anästhesist Michael Fries aus Deutschland brachte die Idee mit Xenon ein. Das Gas wird in Technikprodukten und als Narkosemittel eingesetzt. Fries’ Studien zeigten: Eine 45-minütige Inhalation von 30 % Xenon erhöhte EPO-Werte für bis zu 14 Tage.
Er fragte sich, ob diese Wirkung auch Bergsteiger in großer Höhe unterstützen könnte. Furtenbach testete Xenon 2020 am Aconcagua in Argentinien. Er erreichte den Gipfel in einer Woche – ohne vorherige Höhenanpassung. Seine Sauerstoffsättigung lag laut eigenen Angaben bei 89 %, ungewöhnlich hoch für diese Höhe.
Mike Grocott, Professor in Southampton und selbst Everest-Besteiger, bleibt misstrauisch. Frühere Messungen zeigten ohne Sauerstoff unter 70 % Sättigung auf 8.000 Metern – mit Flasche etwa 80 %. Xenon müsste eine „außergewöhnliche“ Wirkung entfalten, um die einwöchige Besteigung zu ermöglichen, sagt Grocott. „Solche Effekte sind bisher nicht nachgewiesen.“
Offene Fragen und laufende Tests
2022 testete Furtenbach Xenon erneut am Everest – diesmal kombiniert mit Hypoxiezelten zur Vorbereitung. Fries wertete die Daten aus: Verbesserte Ausdauer, hohe Sauerstoffwerte, gestiegene Hämoglobinwerte. Peer-Review-Veröffentlichungen stehen aber noch aus.
Kritik an möglichen Nebenwirkungen weist Fries zurück. Die medizinische Kommission der UIAA warnte, dass ein Narkosegas das Denkvermögen beeinträchtigen könne. Fries betont, Xenon verursache in kleinen Dosen lediglich kurzzeitigen Schwindel.
Drei Höhenmediziner, die für diesen Bericht befragt wurden, bleiben skeptisch. Zwar steige EPO durch Xenon an – doch Leistungsfähigkeit oder Sauerstofftransport änderten sich kaum, sagen Burtscher und Grocott. Der Effekt bleibe biologisch begrenzt.
Trotzdem will Furtenbach mit vier gesunden Kunden den Everest mit Xenon und Flaschensauerstoff besteigen. Wenn das Wetter sieben Tage hält, kann das Experiment starten.
Die Welt schaut gespannt zu.