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Die stille Bedrohung: Lungenkrebs bei Nichtrauchern nimmt drastisch zu

by Silke Mayr
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Als ein Husten mehr war als nur ein Symptom

Martha bemerkte Veränderungen in ihrem Husten: Der Schleim wurde dickflüssiger, die Beschwerden nahmen zu. Ihre Ärzte vermuteten, ihre chronische Lungenkrankheit sei der Auslöser. “Das liegt sicher an der Entzündung”, meinten sie beruhigend.

Erst eine Röntgenaufnahme brachte Klarheit: Ein Schatten zeichnete sich auf ihrer Lunge ab. “Ab da ging alles schnell”, erinnert sich Martha. Es folgten ein CT-Scan und eine Bronchoskopie mit Gewebeentnahme. Vier Monate nach dem ersten Arztbesuch lautete die Diagnose: Lungenkrebs im Stadium IIIA. Der Tumor hatte bereits benachbarte Lymphknoten befallen, aber noch keine Metastasen gebildet. Martha war damals 59 Jahre alt.

“Ich war schockiert”, sagt sie. Sie hatte nie regelmäßig geraucht – nur gelegentlich bei gesellschaftlichen Anlässen.

Eine Krankheit mit neuem Gesicht

Lungenkrebs ist weltweit die häufigste Krebsart und führt auch am häufigsten zum Tod. Im Jahr 2022 erkrankten 2,5 Millionen Menschen, 1,8 Millionen starben daran. Während die Zahl der Raucher weltweit sinkt, steigt der Anteil der Nichtraucher unter den Betroffenen kontinuierlich. Heute betrifft Lungenkrebs 10 bis 20 Prozent der Menschen, die nie geraucht haben.

Andreas Wicki, Onkologe am Universitätsspital Zürich, sieht darin eine eigene Krankheitsform. Sie unterscheidet sich molekular deutlich vom rauchbedingten Lungenkrebs und erfordert andere Behandlungsansätze. Besonders auffällig ist das Alter der Betroffenen. “Wenn wir Lungenkrebs bei Menschen unter 40 sehen, handelt es sich fast immer um Nichtraucher”, sagt Wicki.

Früher war das Plattenepithelkarzinom die häufigste Form. Heute dominiert das Adenokarzinom – vor allem bei Nichtrauchern. Dieser Tumor entsteht in schleimproduzierenden Zellen und lässt sich oft erst spät erkennen.

“Ein kleiner Tumor bleibt lange unbemerkt”, erklärt Wicki. Symptome wie Husten, Atemnot oder Brustschmerzen treten meist erst bei fortgeschrittener Ausbreitung auf. Viele Nichtraucher vermuten daher andere Ursachen – und verlieren wertvolle Zeit.

Weiblich, asiatisch, genetisch betroffen?

Frauen sind als Nichtraucherinnen besonders oft betroffen – vor allem in Asien. Eine Erklärung dafür liefern genetische Mutationen, insbesondere die sogenannte EGFR-Mutation. Sie verändert einen Rezeptor auf der Zelloberfläche, der das Zellwachstum steuert.

Diese sogenannte Treibermutation ist bei vielen Nichtrauchern nachweisbar. Wicki erklärt, dass sie für das unkontrollierte Tumorwachstum verantwortlich ist. Besonders Frauen in Ostasien zeigen häufig diese Mutation. Die Gründe sind unklar – hormonelle Einflüsse könnten eine Rolle spielen. Varianten im Östrogenstoffwechsel sind bei asiatischen Frauen häufiger zu finden.

Seit rund 20 Jahren gibt es zielgerichtete Medikamente gegen EGFR. Sie blockieren gezielt die veränderten Proteine und zeigen anfangs große Wirkung. Doch mit der Zeit entwickeln sich oft resistente Tumorzellen. Neue Medikamente versuchen, diese Resistenz zu überwinden.

Die Fortschritte sind deutlich. “Patienten mit Treibermutationen überleben heute mehrere Jahre”, sagt Wicki. Manche werden bereits seit über einem Jahrzehnt erfolgreich behandelt – ein enormer Fortschritt gegenüber früheren Überlebensraten von weniger als zwölf Monaten.

Luftverschmutzung als entscheidender Risikofaktor

Mit dem Anstieg von Lungenkrebs bei Nichtrauchern wächst die Bedeutung der Umweltfaktoren. Neben Radon, Passivrauchen und schlechter Belüftung beim Kochen oder Heizen rückt besonders Feinstaub in den Fokus.

PM2,5 – Feinstaubpartikel mit einem Durchmesser unter 2,5 Mikrometern – gilt inzwischen als zweitgrößte Ursache für Lungenkrebs. Studien zeigen, dass diese Partikel besonders gefährlich für Menschen mit EGFR-Mutationen sind. Wer in stark belasteten Städten lebt, trägt ein deutlich höheres Risiko.

Am Francis Crick Institute in London erforscht William Hill, wie Feinstaub das Krebsrisiko erhöht. “Im Gegensatz zum Zigarettenrauch verändert Feinstaub die DNA nicht direkt”, sagt er. “Er reaktiviert mutierte Zellen, die bereits in der Lunge schlummern.”

In Experimenten konnten die Forscher nachweisen, dass Immunzellen den Feinstaub aufnehmen und Botenstoffe freisetzen. Diese regen mutierte Zellen zum Wachstum an. “Nur das Zusammenspiel von Mutation und Feinstaub führt zur Tumorbildung”, erklärt Hill. Dieses Wissen könnte völlig neue Möglichkeiten zur Vorbeugung eröffnen.

Obwohl bereits 1950 vermutet wurde, dass fossile Brennstoffe Lungenkrebs verursachen, konzentrierte sich die öffentliche Gesundheitspolitik lange auf den Tabakkonsum.

Neue Gefahren durch Klima und globale Entwicklung

Trotz verbesserter Luftqualität in Europa und Nordamerika ist ein Rückgang der Lungenkrebszahlen nicht sofort messbar. “Zwischen Maßnahmen und Auswirkungen liegen oft zwei Jahrzehnte”, sagt Christine Berg vom National Cancer Institute. Gleichzeitig steigen durch Klimawandel und häufigere Waldbrände die PM2,5-Werte in manchen Regionen wieder an. Der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen gewinnt damit auch medizinische Bedeutung.

2021 hat die WHO den Grenzwert für Feinstaub halbiert. Dennoch leben laut Ganfeng Luo vom Internationalen Krebsforschungszentrum in Lyon 99 % der Weltbevölkerung in Regionen, die diesen Wert überschreiten.

Eine neue IARC-Studie zeigt: Im Jahr 2022 waren weltweit 194.000 Adenokarzinome auf Feinstaub zurückzuführen – besonders betroffen war Ostasien, vor allem China. Indien, mit teils extremen PM2,5-Werten, dürfte bald folgen. In Neu-Delhi liegt der Wert 20-mal über dem WHO-Richtwert.

In Großbritannien lassen sich laut der Studie 1.100 Lungenadenokarzinome auf Luftverschmutzung zurückführen. “Nicht alle Betroffenen sind Nichtraucher”, erklärt Harriet Rumgay, eine der Autorinnen. Auch bei Rauchern tritt diese Krebsform häufig auf, insbesondere bei der Nutzung von Filterzigaretten. “Vieles bleibt unklar”, betont sie. Etwa, wie lange eine Belastung bestehen muss, bevor sich ein Tumor bildet.

Neue Hoffnung – und ein wachsendes Bewusstsein

Die Behandlungsmöglichkeiten für Nichtraucher mit Lungenkrebs haben sich verbessert. In Zukunft könnte diese Form die häufigste Variante der Krankheit werden. Damit verändert sich auch das gesellschaftliche Verständnis. “Leider werden Patienten oft noch immer für ihre Krankheit verantwortlich gemacht”, sagt Wicki.

Martha lebt seit fast drei Jahren mit einem EGFR-Hemmer. “Das Medikament ist keine harmlose Tablette”, sagt sie. Müdigkeit, Muskelschmerzen und Hautprobleme begleiten den Alltag. Die Behandlung verlangt ständige Anpassungen, doch sie wirkt. “Und das Bild von Lungenkrebs als selbst verschuldetem Leiden beginnt sich endlich zu verändern.”

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