Das Gesundheitswesen unter enormem Druck
Drei Jahre nach dem russischen Angriffskrieg steht das ukrainische Gesundheitssystem vor großen Herausforderungen. Angriffe auf medizinische Einrichtungen, Personalmangel und steigende Krankheitsraten belasten die Versorgung erheblich.
Am 8. Juli vergangenen Jahres bereitete Dr. Lesia Lysytsia in Okhmatdyt, dem größten Kinderkrankenhaus der Ukraine, eine Augenoperation vor, als Luftschutzsirenen vor einem russischen Luftangriff warnten.
Lysytsia ignorierte die Warnung. Würden die Ärzte bei jedem Alarm in den Bunker gehen, könnten sie niemals alle Patienten versorgen.
Dann traf eine Rakete das Krankenhaus, tötete drei Menschen und verletzte Dutzende. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich 630 Kinder im Krankenhaus.
Eine Woche später nahm Okhmatdyt den Betrieb teilweise wieder auf. Heute sagt Lysytsia: “Es ist wie an normalen Tagen.” Doch die mentalen Belastungen sind enorm.
Widerstandsfähigkeit in Zeiten des Krieges
Der Krieg hat das Land erschüttert und eine massive Fluchtbewegung ausgelöst. Die UN schätzt, dass die Bevölkerung um mehr als 10 Millionen Menschen gesunken ist.
“Kein Gesundheitssystem der Welt ist für einen umfassenden Krieg ausgelegt”, sagt Eric Adrien, der für die EU-Kommission medizinische Evakuierungen koordiniert.
Ärzte müssen Amputationen durchführen, ohne Strom operieren und den psychischen Druck des Kriegsalltages bewältigen. Ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) betont die Widerstandsfähigkeit des ukrainischen Gesundheitssystems trotz der enormen Herausforderungen.
Die Reformen von 2017 sollten das Gesundheitssystem modernisieren, doch nun verschärfen sich die Unterschiede zwischen Frontregionen und westlichen Gebieten. Zudem steigen Infektionskrankheiten, Antibiotikaresistenzen und Personalengpässe.
“Wer von Lwiw nach Kyjiw reist, könnte denken, dass sich das Land an den Krieg gewöhnt hat. Doch in den östlichen Regionen ist das nicht der Fall”, erklärt Dr. Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen.
Angriffe auf medizinische Einrichtungen und ihre Folgen
Seit 2022 haben russische Streitkräfte laut der Organisation Physicians for Human Rights mehr als 1.760 Angriffe auf medizinische Einrichtungen durchgeführt.
Das entspricht durchschnittlich 1,6 Angriffen pro Tag. Menschenrechtsgruppen sprechen von Kriegsverbrechen.
Seit dem Angriff auf Okhmatdyt gab es mindestens 41 weitere Attacken auf Krankenhäuser. Im Januar wurden zwei Zentren zerstört, im Februar eine Kinderklinik in Odessa getroffen.
“Es war eines der besten Krankenhäuser des Landes. Und in einer Nacht war es zerstört”, sagt Inna Ivanenko von der Patientenorganisation der Ukraine.
16 Prozent der Haushalte haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Besonders in den Frontregionen ist es aufgrund der Angriffe lebensgefährlich, ins Krankenhaus zu gehen.
Krankheiten als Zeichen eines kollabierenden Gesundheitssystems
Die Kriegsbedingungen begünstigen die Verbreitung von Krankheiten. Die WHO warnt vor hohen Risiken für Masern, Tuberkulose, HIV und psychische Erkrankungen.
Tuberkulose ist seit den 1990er Jahren ein Problem in der Ukraine. Laut dem Globalen Tuberkulose-Bericht 2024 stieg die Zahl der Infektionen in den Jahren 2022 und 2023.
“Tuberkulose, HIV, Hepatitis – das sind Anzeichen für ein kollabierendes Gesundheitssystem”, warnt Stöbe.
Die psychische Belastung ist enorm. Mehr als 30 Prozent der ukrainischen Haushalte leiden laut einer Studie der Universität Oxford unter starkem psychischem Stress.
Halyna Skipalska von der Stiftung für öffentliche Gesundheit erklärt: “Wenn psychische Probleme unbehandelt bleiben, kann das zu Depressionen, Essstörungen oder Suizid führen.”
Auch ukrainische Patienten, die ins Ausland evakuiert werden, leiden unter posttraumatischem Stress. “Diese medizinische Evakuierung ist für die Patienten extrem belastend”, sagt Adrien.
Mangel an Fachkräften als langfristiges Problem
Viele medizinische Fachkräfte haben das Land verlassen, sind in den Ruhestand gegangen, wurden eingezogen oder getötet. Seit Kriegsbeginn starben 262 Mediziner.
Besonders an der Front fehlen Fachärzte. “Es gibt viele Hilfsgüter, aber es fehlt an Personal”, erklärt Stöbe.
Die Lage in Zaporizhzhia, nahe der Front, ist besonders angespannt. “Ärzte verlassen die Stadt während intensiver Bombardierungen, kehren aber später zurück”, sagt Dr. Yevheniia Poliakova. Sie bleibt, solange die Stadt nicht besetzt wird.
Der Mangel an Pflegekräften verschärft die Situation. Schon vor dem Krieg gab es einen Engpass. Nun gibt es in der Ukraine nur halb so viele Krankenpfleger pro 10.000 Einwohner wie in der EU.
“Wir wollen ruhig und mutig sein”, sagt Lysytsia. “Aber tief in unserer Seele haben wir alle Angst.”
Internationale Hilfe hält das Gesundheitssystem am Leben. “Es gibt viele Probleme”, sagt Ivanenko. “Aber es hat überlebt. Das zeigt, dass seine Struktur stark ist.”